Lateinamerika \(1820 bis 1860\): Ein Kontinent ordnet sich neu

Lateinamerika \(1820 bis 1860\): Ein Kontinent ordnet sich neu
Lateinamerika (1820 bis 1860): Ein Kontinent ordnet sich neu
 
Infolge der Unabhängigkeit Lateinamerikas brachen zwar die alten Kolonialsysteme zusammen, neue Ordnungen waren dagegen noch nicht in Sicht. Während der Staatenbildungsprozess im Kern etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem gewissen Abschluss kam, dauert der Prozess der Nationbildung noch bis heute an.
 
Brasilien erlangte seine Unabhängigkeit auf friedliche Weise. Das kaiserliche Oberhaupt wahrte ein hohes Maß an Kontinuität, und seine Autorität vermochte vorübergehend, soziale und politische Konflikte zu überdecken. Wenngleich dem Land, das erst 1889 zur Republik wurde, dadurch zahlreiche innenpolitische Konflikte erspart blieben, mangelte es dennoch nicht an Sezessionsbewegungen und sozialen Protesten. Allein unter der ein Jahrzehnt währenden Regentschaft für den noch minderjährigen Pedro, den späteren Peter II., fanden 1831/32 fünf Erhebungsversuche in der Hauptstadt und sieben größere Provinzkriege statt, darunter 1835 die von moslemischen Afrikanern getragene Sklavenrevolte in Bahia — dem heutigen Salvador —, der Aufstand der indianischen und übrigen armen Bevölkerung in Pará, dessen fünf Jahre dauernde Kämpfe etwa einem Fünftel der Provinzbevölkerung das Leben kosteten, sowie der von 1835 bis 1845 währende Sezessionskrieg in der südlichsten Provinz Rio Grande do Sul.
 
 Staatenbildungsprozesse in Hispanoamerika
 
Als wesentlich konfliktreicher und gewaltsamer erwies sich jedoch die Staatenbildung in den spanischsprachigen Ländern. Auf die Unabhängigkeit waren die Lateinamerikaner — Simón Bolívar hatte das klarsichtig analysiert — nicht vorbereitet. Das absolutistisch-koloniale Regime schloss sie weitgehend von der politischen Macht aus und ermöglichte ihnen mithin nicht, Formen der Selbstregierung, wie sie beispielsweise die nordamerikanischen Siedler schon vor der Unabhängigkeit praktizieren konnten, einzuüben. Streitpunkte der kommenden Jahrzehnte bildeten nicht nur die Regierungsform — Republik oder Monarchie —, sondern ebenso die staatliche Organisationsform sowie die bislang dominierende Rolle der Kirche in Staat und Gesellschaft, im Erziehungswesen und der Wirtschaft. Dabei standen sich Liberale und Konservative unversöhnlich gegenüber: Während Erstere für föderative Systeme und einen laizistischen Staat fochten, befürworteten Letztere nicht nur einen zentralistischen Staatsaufbau und in der Regel die Monarchie, sondern wollten gerade den Einfluss der Kirche als Ordnungsfaktor gewahrt wissen. Diese Konflikte verbanden sich nicht selten mit brisanten Auseinandersetzungen zwischen Regionen und Zentrum der noch in Bildung begriffenen Staaten und führten zu zahlreichen Bürgerkriegen, Sezessionskämpfen und Grenzstreitigkeiten.
 
Politische Konflikte der Neuordnung
 
Die Tatsache, dass viele Führer der Befreiungsbewegungen in den ehemaligen Reichen der spanischen Krone ernsthaft über die Errichtung von Monarchien nachdachten, gründete vorderhand im Wunsch nach Kontinuität. So erwog man im Andenraum mehrmals, Nachfahren der Inka als oberste Repräsentanten einzusetzen; im sich allmählich formierenden Argentinien setzte man vornehmlich auf eine bourbonische Sekundogenitur, mithin auf die nicht unmittelbar Erbberechtigten in der spanischen Königsnachfolge. In Peru begab sich der argentinische General José de San Martín mit seinem Plädoyer für ein königliches Staatsoberhaupt in einen strikten Gegensatz zum glühenden Republikaner Simón Bolívar. Von einer Monarchie erwarteten die Befürworter nicht nur eine ausgleichende Wirkung auf die verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen, sondern auch die rasche Anerkennung der neuen Staaten in der internationalen Politik. Das auf dem Wiener Kongress 1815 etablierte restaurative System in Europa bevorzugte eindeutig Monarchien gegenüber Republiken mit ihren verfassungsmäßigen Ordnungen nach liberalen Prinzipien. Großbritannien ging in der Anerkennung der jungen Staaten voran, doch ließ es sich diesen diplomatischen Schritt jeweils mit vorteilhaften Handelsverträgen belohnen: Abkommen, die häufig das einheimische Gewerbe einem existenzvernichtenden Preisdruck durch britische Waren aussetzten.
 
Um ein Gegengewicht zur europäischen Staatenwelt aufzubauen, verfolgte Simón Bolívar anfangs Pläne, alle Staaten Amerikas in einer Konföderation zusammenzufassen. Seinem Aufruf zu einem panamerikanischen Kongress in Panama blieben nicht nur die USA und Brasilien fern; auch Buenos Aires wollte sich nicht an einem solchen Staatengebilde beteiligen. In der Folge sollte die Idee einer Andenföderation von Venezuela bis Bolivien ebenfalls scheitern. 1826 war dieser nach Bolívar benannte Staatenbund gegründet worden. Doch schon im folgenden Jahr sagte sich Peru und 1828 Bolivien los. Rivalitäten in der Oberschicht oder zwischen den Militärführern der jeweiligen Länder bedingten, dass im Todesjahr Bolívars 1830 auch das 1821 ins Leben gerufene Großkolumbien in die drei Staaten Ecuador, Venezuela und Kolumbien zerfiel.
 
Als einzige der früheren spanischen Kolonien hatte Mexiko 1822 mit der Ausrufung des wenig charismatischen Generals Agustín de Itúrbide zum Kaiser eine Monarchie etabliert. Nach dessen Sturz schon wenige Monate später sah sich das politisch instabile Land mit verschiedenen sezessionistischen Bewegungen konfrontiert. Einige der erst kurz vor Ende der Kolonialzeit zu Intendantenbezirken zusammengefassten Regionen reklamierten ihre Unabhängigkeit. Auch in Zentralamerika, das sich 1821 der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung und dann dem Kaiserreich angeschlossen hatte, gewannen desintegrative Kräfte die Oberhand. Nach der Loslösung von Mexiko strebte man zunächst eine zentralamerikanische Konföderation an. Doch ökonomische, kulturelle und soziale Unterschiede führten rasch zum Ende dieses Staatenverbundes. Zentralamerika zerfiel, allen weiteren Einigungsversuchen zum Trotz, in die Republiken Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica. Aber auch die neuen Republiken blieben von Spannungen, deren Ursachen in den Gesellschaften der Kolonialzeit lagen, nicht unberührt. Rivalitäten zwischen verschiedenen Städten wirkten zusätzlich destabilisierend, so konkurrierten zum Beispiel in Nicaragua zunächst Granada und León um die Hauptstadtwürde: Schließlich verständigte man sich auf Managua.
 
Ein starker Regionalismus bei gleichzeitiger Ablehnung der Vorherrschaft von Buenos Aires über die Provinzen führte am Río de la Plata zu zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen. Noch während der Unabhängigkeitsphase hatte sich Hochperu, das heutige Bolivien, von Buenos Aires abgewandt. Auch die am 12. Oktober 1813 proklamierte Unabhängigkeit Paraguays richtete sich nicht nur gegen die Spanier, sondern verstand sich ebenso als Zurückweisung der Hegemonieansprüche von Buenos Aires. Uruguay, die Banda Oriental, das in seiner wechselvollen Geschichte sogar kurzzeitig zu Brasilien gehörte, widersetzte sich schließlich unter dem Milizoffizier José Gervasio Artigas ebenfalls Buenos Aires. 1820 zerbrach die Einheit des übrigen Argentinien. Nicht zuletzt aufgrund einer Politik des Freihandels, die den Wirtschaftsinteressen der Binnenprovinzen völlig entgegenstand, erholte sich die Hafenstadt Buenos Aires von diesem Zerfall sehr schnell. Diese strukturell begründeten wirtschaftlichen Spannungen konnten auch in der langen Regierungszeit des Präsidenten und Diktators Juan Manuel de Rosas zwischen 1829 und 1852 kaum abgeschwächt werden. Die Bürgerkriege um die innere Ordnung Argentiniens fanden erst mit der Gründung der »Argentinischen Konföderation« ihr Ende, der Buenos Aires nicht angehörte. Erst 1862 gelang es dem Gouverneur von Buenos Aires, Bartolomé Mitre, das konföderierte Heer entscheidend zu schlagen. Mitre war bis 1868 erster verfassungsmäßiger Präsident des wieder vereinigten Argentinien.
 
Auf die noch im Gange befindliche Staatenbildung verwiesen überdies eine Fülle von Grenzstreitigkeiten. So verlor Mexiko zwischen 1848 und 1853 seine nördlichen Gebiete an die USA. Das wohl spektakulärste Beispiel für unsichere Grenzen stellt Paraguay dar, dessen Nachbarn, allen voran Brasilien, Anspruch auf den südamerikanischen Binnenstaat erhoben. 1865 kam es zum Krieg zwischen der aus Brasilien, Argentinien und Uruguay bestehenden »Tripelallianz« und Paraguay, in dessen Folge dieses Land besetzt wurde und in dem allein etwa 70 Prozent der männlichen Bevölkerung Paraguays ihr Leben verloren haben sollen. Letztlich behauptete sich Paraguay als Pufferstaat.
 
Insgesamt hatte sich in den einzelnen Ländern ein zentralistischer Staatsaufbau durchgesetzt. Diesem entsprach das weitgehende Übergewicht der Exekutive über die Legislative, für das sich schon Bolívar ausgesprochen und das ihn in einen Gegensatz zu seinen Mitstreitern gebracht hatte. Das Amt des an ihn übertragenen peruanischen Staatsoberhauptes war mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet; diese starke Stellung des Präsidenten sollte sich in den meisten Ländern behaupten. Wenn auch die Verfassungen zugleich liberale Elemente betonten, blieben föderale Korrektive selten. Nichtsdestoweniger untergrub die Macht lokaler und regionaler Eliten de facto den Führungsanspruch der Hauptstädte, und regionalistische Bestrebungen zeitigten nicht selten bewaffnete Konflikte.
 
»Caudillos« und Personalismus
 
Angesichts eines fehlenden verbindlichen politischen Rahmens und infolge des Machtvakuums traten seit Beginn der Unabhängigkeitskriege Heerführer auf den Plan, die mittels Waffengewalt ihren jeweiligen politischen Zielen zum Durchbruch verhelfen wollten. Nicht selten motivierte das Streben nach persönlicher Bereicherung die Kämpfe entscheidend. Die Präsenz des Militärs in der Politik stellte ein Novum in der lateinamerikanischen Geschichte dar. Zwar existierte in der Kolonialzeit ein Militär- und Heereswesen, aber den zahlenmäßig unbedeutenden Truppenkontingenten kam nie eine besondere soziale oder gar politische Rolle zu. Erst die im Verlauf der Unabhängigkeitskämpfe entstandenen zahlreichen Guerillagruppen brachten die Figur des militärischen Führers, des Caudillo, hervor. Diese Truppen wurden nun in innenpolitischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen zwischen Konservativen und Liberalen eingesetzt. Die Caudillos gehörten meist der Land besitzenden Oligarchie an und waren aufgrund ihres wirtschaftlichen Hintergrundes in der Lage, Gefolgsleute zu rekrutieren und Soldaten auszurüsten. Zahlreiche Guerillakämpfer waren zu Generälen und schließlich zu Staatspräsidenten aufgestiegen, wie zum Beispiel José Antonio Páez, der seit 1830 mehrfach in Venezuela regierte, oder Manuel Fernández Guadelupe Victoria, der zwischen 1824 und 1829 das Präsidentenamt in Mexiko innehatte.
 
Die Caudillos waren keineswegs Garanten politischer Stabilität, wechselten sie doch mitunter mehrmals die Fronten. Unter den Militärführern der ersten Jahre nach der lateinamerikanischen Unabhängigkeit ist insbesondere General Santa Anna hervorzuheben, der in Mexiko zwischen 1824 und 1855 elf Staatsstreiche durchführte und sich nicht scheute, gegen seine eigene Regierung zu putschen. Festzuhalten bleibt, dass es den Staaten Lateinamerikas bis heute nicht gelang, ein von allen Gruppen anerkanntes Machtmonopol durchzusetzen. So ist es gerade jene Epoche der Caudillos — von Gabriel García Marquéz so plastisch in seinem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« dargestellt —, die lateinamerikanische Länder in europäischen Augen zu «Operettenstaaten« werden ließ. Die häufig anzutreffende Konzentration der Militärführung und der Präsidentschaft auf eine Person ergab eine Verquickung von militärischer und ziviler Herrschaft. Doch bei aller Tendenz zu autoritärer Herrschaft zeigen die Auseinandersetzungen gerade auch das Ringen lateinamerikanischer Staaten um eine verfassungsmäßige Ordnung. Alle Länder bemühten sich um eine durch eine Konstitution legitimierte Herrschaft, wobei die Instabilität der politischen Verhältnisse durch nichts sinnfälliger wird als durch die Tatsache, dass es manche Länder, wie zum Beispiel Peru, Kolumbien oder Ecuador, auf ein halbes Dutzend Verfassungen im Laufe des 19. Jahrhunderts brachten; Bolivien und Haiti sogar auf ein Dutzend. Diese Verfassungen beschrieben nicht den Istzustand, sondern vielmehr ein in der Zukunft zu verwirklichendes Ideal.
 
Mit den Caudillos trat erstmals der Personalismus in der lateinamerikanischen Geschichte in Erscheinung. Politische Parteien und Weltanschauungen — die sicherlich auch vorhanden waren — spielten hier eine untergeordnete Rolle. Stattdessen gaben persönliche Bindungen an einen politischen Führer den Ausschlag. Ihnen kam auch weitaus größere Bedeutung zu als den ohnehin schwachen staatlichen Institutionen. Mittels vielschichtiger Klientelbeziehungen sicherten sich die vermögenden Schichten auf diese Weise ihren Einfluss und kontrollierten weite Teile der Bevölkerung.
 
Bei der Bewertung der chaotisch anmutenden lateinamerikanischen Staatenbildungsprozesse bleibt zu berücksichtigen, dass die betroffenen Länder einen völligen Zusammenbruch ihrer politischen Ordnung erlebt hatten. Europa wurde letztlich mithilfe politischer Repression stabilisiert, worüber für das deutsche Gebiet die Karlsbader Beschlüsse von 1819 beredtes Zeugnis ablegen. Gewalt begleitete auch hier die Staatenbildung. In der 2. Jahrhunderthälfte säumten allein drei größere Kriege den Weg der nationalen Einigung Deutschlands: der Deutsch-Dänische des Jahres 1864, der Deutsche 1866 sowie der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Während sich in Europa die politische, gesellschaftliche und ökonomische Modernisierung nacheinander in verschiedenen Phasen vollzogen, musste sich Lateinamerika diesen Modernisierungsprozessen beschleunigt und zeitgleich stellen.
 
 Soziokulturelle und ökonomische Ursachen der Konflikte
 
Das Nebeneinander ethnisch-sozialer Gruppen
 
Hinter dem mangelnden Konsens über Regierungsform und Staatsziele verbirgt sich ein ernstes soziokulturelles Problem, das in der Kolonialzeit angelegt wurde und erst mit der Unabhängigkeit voll in Erscheinung trat. Unter der spanischen Herrschaft hatte sich eine Gesellschaft ausgebildet, in der mehrere ethnische und soziale Gruppen mit ihren jeweiligen Religionen, Sprachen, Lebensformen und Wertesystemen fast ohne Berührung nebeneinander bestanden. Die der Möglichkeit nach angelegten sozialen und kulturellen Gegensätze sollten nach der Unabhängigkeit, als das einigende Band von Thron und Altar nicht mehr vorhanden war, voll zum Durchbruch kommen. Die Befreiungskämpfe hatten die hierarchische Gliederung der lateinamerikanischen Gesellschaften nicht erschüttert. An deren Spitze standen nach wie vor die in Amerika geborenen Nachfahren der Spanier, die Kreolen. Auf die Mestizen und indianischen Völker blickten sie meist nur mit Verachtung herab. Diese Gruppen der Bevölkerung standen abseits der hauptstädtischen Politik und hatten entweder kein Interesse oder keine Möglichkeit, sich politisch zu betätigen. Besonders trifft das für die große Gruppe der indianischen Ureinwohner zu. Die bäuerlich geprägte Lebenswelt der meisten Indios war und ist von der jeweiligen Region bestimmt sowie von ihren indianischen Traditionen und ihrer Sprache. Des Spanischen oft nicht mächtig, lag und liegt ihnen nichts am Aufbau eines Staates, dessen Grenzen und Ausdehnung sich nicht mit denen ihrer Region deckten bzw. decken. Wurden Interessen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld berührt, so wehrten sie sich in direkten Aktionen. In den beiden politisch bestimmenden Lagern stieß die indianische Lebensweise auf Unverständnis. Die Konservativen behandelten die indianischen Gemeinden durchweg in paternalistischer Manier, wobei sich die herrschende Großgrundbesitzerschicht stets darum bemühte, sich die politische und ökonomische Kontrolle über beispielsweise Wasser- und Weiderechte zu sichern. Die Liberalen, die sich in ihrem ideologischen Eifer dem Fortschrittsgedanken und den — eher abstrakt gedachten — Menschenrechten verpflichtet fühlten, sahen in den indianischen Gemeinden unliebsame Bastionen der Beharrung. Für sie kam daher nur die vollkommene Umerziehung der Indios zu Staatsbürgern liberaler Prägung infrage. Respekt vor der Lebensweise ihrer Mitbürger war dieser Gruppierung fremd.
 
Den Mestizen, die aus Verbindungen zwischen Europäern und Indianerinnen hervorgangen sind, fiel und fällt die Identitätssuche besonders schwer. Ihr Wertesystem ist weder ausschließlich indianisch noch vollkommen europäisch geprägt; ihr Verhältnis zu beiden Kulturen ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Die Mestizen kritisieren den Hochmut der Europäer und lehnen sie deshalb ab; gleichzeitig verachten sie die Indios wegen ihrer rückständigen Lebensweise. Zwar sind die Mestizen, die heute den überwiegenden Teil der Mittelschichten bilden, inzwischen weitgehend in das politische Leben integriert, doch wirkt das spannungsreiche Nebeneinander verschiedener Lebenswelten und Wertesysteme bis heute fort. Zusätzlich überlagern sich ethnisch-kulturelle Probleme der Mestizen mit solchen, die sich aus deren sozioökonomischer Stellung ergeben. Mit ihren Abschottungstendenzen gegen die ständig wachsende Zahl der Armen trägt diese Mittelschicht mitunter zur Verschärfung der ethnisch überformten gesellschaftlichen Konflikte bei. Somit stellt die sonst für die demokratische Herrschaft so wichtige Mittelschicht eher eine Bedrohung denn ein Förderungselement für eine pluralistisch-liberale Ordnung dar. In den innerlateinamerikanischen Diskussionen sind Bedeutung und Rolle der Mestizen umstritten. So diskutierte man zum Beispiel die Frage, ob der Militarismus und der Caudillismus nicht speziell mestizische Phänomene seien. Schon Simón Bolívar erkannte früh das daraus erwachsende Problem für die zukünftige lateinamerikanische Gesellschaft und Kultur. So forderte er bereits 1819 auf dem Kongress von Angostura: »Einheit, Einheit, Einheit muss unsere Devise sein. Das Blut unserer Bürger ist unterschiedlich; mischen wir es, um es zu vereinen.«
 
Wenn sich auch seit 1810 Staaten etabliert haben, so kann man von Nationen bei diesen neuen politischen Einheiten noch lange nicht sprechen. Die Länder dieser Region waren weit davon entfernt, über Normen und Verhaltensformen zu verfügen, die von der überragenden Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurden; außerdem fehlte die Toleranz, unterschiedliche Gruppen als gleichberechtigt anzuerkennen. Freilich bleibt zu bedenken, dass auch unser politisches Wertesystem sich erst allmählich und unter großen Verwerfungen herausgebildet hat, man denke nur an die nationalistischen Bewegungen als Antwort auf den Zerfall des Ancien Régime nach 1789 und infolge des Niederganges der zentraleuropäischen Monarchien nach dem Ersten Weltkrieg.
 
Das wirtschaftliche Erbe
 
Zum mangelnden politischen Konsens in den ersten Jahren der staatlichen Selbstständigkeit gesellte sich darüber hinaus eine schwere wirtschaftliche Hypothek. Die Unabhängigkeitskriege hatten die Wirtschaft der einzelnen Regionen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die neuen Staaten erbten zudem von Spanien Schulden. Madrid hatte zur Finanzierung der Koalitionskriege Kredite aufgenommen, die durch die Einnahmen der amerikanischen Zölle und Kassen gedeckt werden sollten. Doch bis zur Unabhängigkeit war davon nur ein Teil zurückgezahlt worden. Die so wichtige internationale Anerkennung aber setzte voraus, die von der Kolonialmacht verursachten Verpflichtungen zu übernehmen. Bereits hier nahm die lateinamerikanische Verschuldungsproblematik ihren Anfang.
 
Die während der Kolonialzeit in einigen Regionen Hispanoamerikas ertragreichen Edelmetallbergwerke waren durch Überflutung unrentabel geworden, und die Felder waren durch die umherziehenden Truppen schweren Verwüstungen ausgesetzt gewesen. Europäische Bankhäuser bezahlten den Versuch, die Minen wieder flottzumachen, mit hohen Verlusten — unter anderem die traditionsreiche britische Baringbank — oder sogar mit dem Bankrott. Außerdem hatten sich die jungen Staaten verschulden müssen, um ihre Kriegskosten zu bestreiten. Kredite auf dem internationalen Markt, besonders aber im damals tonangebenden Großbritannien, waren nur zu sehr ungünstigen Konditionen zu bekommen. Da sich die Hoffnung auf eine rasche Amortisation der Anleihen nicht erfüllte, bestanden die Schulden der jungen Republiken das gesamte 19. Jahrhundert über und belasteten — zusammen mit den noch von Spanien verursachten Verpflichtungen — die Volkswirtschaften beträchtlich. Zudem erhielten die jungen lateinamerikanischen Staaten — im Gegensatz zu den USA — während der Unabhängigkeitskämpfe sowie danach keine internationale Unterstützung. Dass sich demokratische Lebensformen und Verhaltensmuster angesichts einer verheerenden ökonomischen Situation und der damit verbundenen mangelhaften sozialen Sicherheit nicht durchsetzen können, gehört zu den grundlegenden Einsichten der Demokratietheorie.
 
Wie sehr außenpolitische, ökonomische und innere Faktoren zusammenwirkten, zeigt das Eingreifen britischer, französischer und spanischer Truppen in Mexiko im Jahre 1861. Anlass dafür bot die säumige Schuldentilgung Mexikos, das sich im Bürgerkrieg befand. Die mexikanischen Konservativen, die gegen die liberale antiklerikale Gesetzgebung unter dem Präsidenten Benito Juárez kämpften, hatten sich wiederholt für die monarchische Staatsform eingesetzt. Napoleon III. organisierte die Intervention, bei der der Habsburger Maximilian zum Kaiser von Mexiko bestimmt wurde. Schließlich gelang es 1866 Juárez, das französische Interventionsheer zu besiegen. Der im Land verbliebene Maximilian wurde 1867 gefangen genommen und erschossen.
 
Die Regierungen, gleich, ob von Zivilisten oder von Militärs geführt, erwiesen sich angesichts der beschriebenen Strukturdefizite als unfähig, die vielfältigen Probleme zu lösen. Im Gegensatz zu den europäischen Staaten, die die zahlreichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse sicher nicht ohne gravierende politische Verwerfungen, aber dennoch ohne die traumatischen Belastungen einer kolonialen Vergangenheit durchliefen und die auf mehr oder weniger evolutionärem Wege sich zu modernen Ländern entwickelten, sahen sich die Republiken südlich des Río Grande vor die Aufgabe gestellt, die Modernisierung auf einmal zu bewerkstelligen. Gleichzeitig verfügten die neuen Staaten kaum über ausreichende finanzielle Ressourcen. Sowohl der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit als auch der staatlichen Steuer- und Zolleinnahmen untergruben den Handlungsspielraum und das Durchsetzungsvermögen der Regierungen. Die strukturelle Korruption durch schlecht bezahlte oder unterbezahlte Beamte bürgerte sich ein. Auch die einseitige Wahrung egoistischer Gruppeninteressen durch die Regierenden bestimmte nur allzu oft die Politik. So setzten beispielsweise zivile Oligarchien eine ihnen genehme Niedrigzollpolitik durch, ohne sich auch nur im Mindesten um die Folgen für die nationale Volkswirtschaft, mithin um die Auswirkungen auf Kleinproduzenten, Handwerker oder Gewerbetreibende, zu kümmern. Weite Teile der lateinamerikanischen Eliten verhielten sich sozial verantwortungslos und entzogen sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe.
 
Dr. habil. Peer Schmidt
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Lateinamerika: Zwischen Reform und Diktatur
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Lateinamerika zwischen Kolonialismus und Unabhängigkeit (1763 bis 1820): Spaniens Rückzug aus der Neuen Welt
 
 
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, herausgegeben von Walter L. Bernecker u. a. Band 2. Stuttgart 1992.
 König, Hans-Joachim: Auf dem Wege zur Nation. Nationalismus im Prozeß der Staats- und Nationbildung Neu-Granadas 1750 bis 1856. Stuttgart 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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